Ralf F. Hartmann
Jürgen Baumanns Arbeiten der letzten Jahre fokussieren Körperlichkeit und nehmen
das körperliche Detail, die Binnenstrukturen von Körpern ins Visier. Entgegen aller
Virtualisierungstendenzen der Gegenwartskunst stellt er das konkrete Abbild in den
Mittelpunkt seines künstlerischen und bisweilen beinahe naturwissenschaftlichen
Interesses als Fotograf.
Seine Arbeiten sind äußerst puristisch und beanspruchen höchste Authentizität, denn
sie sind niemals digital überarbeitet, computermanipuliert oder gar computergeneriert,
sondern entstehen ausschließlich im Atelier und in der Dunkelkammer.
Mit herkömmlicher fototechnischer Ausstattung geht Baumann nahe an die Objekte
heran, sucht die größte Nähe zu den Körpern und konzentriert sich auf
Oberflächenstrukturen und Details. Die Kamera fragmentiert das Ganze und scannt den
Gegenstand konsequent mit der Linse Zentimeter für Zentimeter ab.
Diese beinahe brutale Nähe hebt die Distanz zwischen Fotograf und Objekt vollkommen
auf. Das fragile Gleichgewicht von Distanz und Nähe, von respektvollem Abstand und
intimer Grenzüberschreitung wird konsequent überspannt und bis aufs Äußerste
vorangetrieben.Dabei bleibt jedoch die Fragmentierung nicht im Stadium des
Voyeurismus stehen, sondern greift kreativ ein.
Die Distanz zum Objekt wird vielschichtig überschritten und generiert neue
Körperlichkeit, denn aus einem Pars-Pro-Toto entwickeln sich neue formale Identitäten
oder besser gesagt: Abstrakte Wesen, Landschaften und Bilder. Aus den Fragmenten
formiert sich so gewissermaßen eine neue Totalität, eine Totalität, die den Körper des
fotografierten Gegenstandes umdefiniert und ihn als Summe multipler Blicke und
Ansichten wieder zusammen setzt.
Jürgen Baumann bleibt bei seiner Arbeit beim Bild, einem Bild, das sich aus Sequenzen
formuliert und sich in eine fast landschaftlich zu nennende Ganzheit verwandelt. Der
eigentliche Bildgegenstand – das dokumentierte Objekt – verliert bei diesem Prozess
der Segmentierung vollkommen seine Bedeutung, denn er ist in der Summe der
Fragmente nicht mehr als solcher in seiner ursprünglichen Beschaffenheit zu erkennen.
Die detailversessene Abstraktion ist in vielen Arbeiten so weit fortgeschritten, dass
völlig unklar wird, worum es beim abgebildeten Gegenstand ursprünglich einmal ging.
Denn die Summe der Einzelperspektiven lässt keinen neuen Körper entstehen, sondern
eine flächenhafte Bildhaftigkeit, die durch Dynamik, räumliche Tiefe, Hell-Dunkel-
Kontraste und fortlaufende Strukturen gekennzeichnet ist. Insofern auch der Vergleich
zur Landschaft oder besser: zum Landschaftsbild, das von malerischen
Ordnungsprinzipien bestimmt wird.
Jürgen Baumann ist von den unendlichen kreativen Möglichkeiten der
Aneinanderreihung von Segmenten fasziniert und er erfindet permanent neue solcher
Körperlandschaften, die in erster Linie als Bild, nicht als Abbild funktionieren.
Natürlich setzen die Arbeiten auch eine Vielzahl ganz anderer Assoziationen frei, denn
man wird z.B. an blutige Haut erinnert oder findet sich beim Betrachten von schlichten
Muttermalen im Kosmos des Weltalls wieder oder aber man denkt an erotische Motive,
wenn man sich mit einfachen Obstkernen konfrontiert sieht.
An diesem Punkt befindet man sich als Betrachter mitten im Dilemma der eigenen
Position und der eigenen Phantasien wieder.
Farbigkeit und Struktur vieler Bilder, ebenso wie der feuchte Glanz ihrer Oberflächen,
setzen mannigfache Assoziationen frei, spielen mit der Distanzlosigkeit des Voyeurs und
einer vermeintlichen Nähe zum menschlichen Körper.
Erschrecken über das eigene Beobachten und den eigenen neugierigen Blick stellen
sich ein, wenn auch nur der leiseste Anschein entsteht, man betrachte einen
menschlichen Körper.
Manche Arbeiten spielen bewusst mit den Kategorien Schönheit und Hässlichkeit bzw.
Anziehung und Abscheu, ja beinahe mit der Empfindung von Ekel.
Herausgelöst aus einem wissenschaftlichen Bezugsrahmen, z.B. einem medizinischen
Handbuch, setzen die Blessuren der Haut, die Unreinheiten und offenen Wunden
Abscheu in uns frei, obwohl wir keinen konkreten Hinweis darauf bekommen, was wir
eigentlich vor uns sehen. Farbe, Struktur und Form suggerieren belebte Körperlichkeit,
scheinen den Blick in intimste Bereiche des Körpers – genauer gesagt des
menschlichen Körpers – freizugeben. In Bereiche also, die normalerweise aller
öffentlichen Betrachtung entzogen sind, es sei denn sie dient der wissenschaftlichen
Auseinandersetzung. Denn in gewisser Hinsicht ist dieser sezierende Einblick in intime
Bereiche unseres Daseins ausschließlich durch die wissenschaftliche Objektivierung
legitimiert.
Noch schwieriger verhält sich diese Diskrepanz (von Schönheit und Hässlichkeit) aber in
der Fotografie, zumal wenn der menschliche Körper in den Blick genommen wird, ein
Motiv, das am deutlichsten mit ästhetischen Barrieren und Vorbehalten besetzt ist.
Menschliche Körper sind hier nur marginal vertreten, obwohl Jürgen Baumann unzählige
solcher Serien produziert hat.
Eine Erinnerung an den menschlichen Körper spielt aber in einem Großteil der hier zu
sehenden Arbeiten dennoch eine große Rolle, auch wenn nur Motive aus der
Pflanzenwelt zu sehen sind.
Die ästhetische Demarkationslinie ist in unserer modernen Gesellschaft mit ihren
hemmungslosen Werbestrategien, mit ihrer unverblümten Sensationslust und oftmals
geschmacklosen Bildverwertung ziemlich dünn geworden. Der Schritt von
Dokumentation und Abbildung zu Obszönität bzw. zu Erotik und Pornografie ist klein
und wirft den Betrachter beständig auf den eigenen Wertapparat zurück.
Im Fall von Jürgen Baumann wird aus dem konfrontativen Blick aufs Detail eine kritisch
zu nennende Suggestion. Sie entsteht durch ein zu viel an Bildinformation in unseren
Köpfen und überblendet das eigentliche Abbild – es handelt sich z.B. um einen
schlichten Kürbis oder um Obstkerne – mit assoziativen Obsessionen.
Zurück bleibt ein Konflikt, in dem sich der Betrachter und die Betrachterin unvermittelt
wieder finden, ein Konflikt, der über die Macht der Bilder in unserem Alltag äußerst
beredte Auskunft gibt. In gewisser Weise formulieren Baumanns Arbeiten dazu einen
kritischen Kommentar.
Jürgen Baumanns Arbeiten nun geben einer menschlichen Sensationslust eigentlich
keine Chance, auch wenn sie den Blick auf das Dargestellte und das spontan
Assoziierte nicht wissenschaftlich-objektiv zu begründen versuchen.
Stattdessen wird künstlerisch legitimiert. Baumann bringt durch das serielle
Aneinanderreihen von Motiven und Motivausschnitten eine quasiobjektive Neutralität ins
Spiel, die eine ganz eigene künstlerische Qualität ausmacht und hervor ruft.
Einzelne Segmente und Detailausschnitte eines Objektes werden aufgereiht, z.T. Stoß
auf Stoß., z.T. mit einem minimalen Abstand, und es entwickelt sich dadurch eine
gewisse Rahmung bzw. Rasterung. Sie erinnert zunächst an Schautafeln in
medizinischen Büchern, so als ginge es darum eine Entwicklungsgeschichte im Sinne
einer Genesis zu dokumentieren oder die Analyse von Farbwerten zu vollziehen. Und
natürlich ist das auch der Hintergrund, vor dem diese Art des Arbeitens gesehen werden
muss.
Interessant ist aber, was daraus an Neuem entsteht, wie sich einzelne immer
wiederkehrende Motive zu neuen Bedeutungen zusammen finden. Denn plötzlich
nehmen ganz banale Motive aus der Natur symbolische Qualität an, erinnern z.B. an
das Weltall und reflektieren die Entstehungsgeschichte des Lebens oder sie wechseln
ihre Farbigkeiten und rufen Stimmungen hervor, changieren zwischen Melancholie und
Fröhlichkeit (wohlgemerkt: Obstkerne tun das!). Andere Motive wirken wie textile
Strukturen, ergeben den Eindruck eines künstlerisch gefertigten Netzwerks, das allein
durch die Art des Nebeneinanderstellens entsteht (so kunstvoll ist aber nicht
menschliche Handarbeit, sondern ein schlichter Pilz).
Als ich das erste Mal bei Jürgen Baumann im Atelier war und er nacheinander alle diese
einzelnen Segmente vor mir ausbreitete, war ich schlicht von der Vielfalt fasziniert und
habe erst einmal versucht herauszufinden, was das alles ist, was wir da vor uns sehen.
Aber auf den zweiten Blick stellte sich um so mehr die Faszination über das Neue ein,
das aus dem Zusammenspiel der einzelnen Motive entsteht, und es erinnerte mich ein
wenig an die Malerei des Pointillismus, bei der aus unzähligen kleinen Farbpunkten in
der Distanz ein Bild entsteht.
Jürgen Baumann hat diese fast schon meditative Konzentration in seinen Arbeiten
gefunden, wenn er uns die Faszination für das Kleine, Winzige und oftmals
Mikroskopische spüren lässt, die seiner Arbeit zugrunde liegt.
Seine Archäologie des Obstkerns ist für mich der deutlichste und darüber hinaus auch
ein sehr unterhaltsamer Beweis.
Auszüge einer Rede von Ralf F.Hartmann anlässlich der Ausstellungseröffnung
„Segmente“, Galerie Bernau, 19.04.2002