Kein Künstler arbeitet im luftleeren Raum, für fast alle und alles existieren
kunsthistorische Referenzsysteme. Auch serielle Variationen und das Umkreisen des
Hauptbildgegenstandes mit der Kamera gab es schon vor Jürgen Baumann. Der
1968 jung verstorbene Frankfurter Künstler Peter Roehr beispielsweise schuf
Tableaus aus beinahe identischen Photographien von Alltagssituationen, eine Art
filmische Standbild-Sequenz. Er wiederum rekurrierte möglicherweise auf Warhols
identische Siebdruckmotive auf einer Leinwand, dennoch war Roehrs Ansatz für die
deutsche Kunstgeschichte der 1960er-Jahre formal radikal und in sich nur auf den
ersten Blick redundant. Schauen wir noch weiter zurück, stoßen wir auf den
Bauhaus-Schüler Kurt Kranz und dessen Photo-Tableaus. Auf jenen Tafeln,
bestehend aus einem guten Dutzend aufgeklebter S/W-Photographien mit
unterschiedlicher Gesichtsphysiognomie, kommt eine experimentelle Freude an der
variantenreichen Verwandlung des menschlichen Antlitzes zum Tragen.
Auch Jürgen Baumann verwendet eigene, selbstvergrößerte Photographien im vollen
Negativformat, häufig 30 x 45 cm, die er Stoß an Stoß montiert; doch im Unterschied
zu den früheren Kollegen variiert er den Kamerawinkel extrem, ja er umrundet den
Gegenstand mit seinem Blick, so dass er auf den Arrangements gleichzeitig aus
unterschiedlichen Perspektiven zu sehen ist, durchaus einem kubistischen Gemälde
vergleichbar. So eröffnen sich auch unterschiedliche Leserichtungen der
Einzelblätter, horizontal oder vertikal, sowie clusterhafte Verbindungen innerhalb der
zusammenmontierten Gesamtkomposition.
Seit 1999 entstanden zahlreiche nahansichtige Bilder von Körpern und Früchten, die
der Künstler anschließend in ein Tableau übersetzte. Der Ansatz ist einer
Introspektion vergleichbar, es handelt sich um einen gleichermaßen subtilen wie
direkten Blick auf fleischlich-natürliche und künstlich-metallische Oberflächen der
Dinge, denn, wie in einem Insert, gerät auch schon einmal ein Auto dazwischen. Die
Systematik der Aufnahmeserien, aus denen später nur ein Bruchteil im endgültigen
Werk verwendet wird, ist Methode und Konzept. Das Zusammensetzen der
Einzelbilder funktioniert wie ein Puzzle, wenngleich hier Hunderte von
Kombinationsmöglichkeiten existieren, die zunächst gleichberechtigt erscheinen.
Dieser Prozess, das so genannte „Editing“, folgt keiner festgelegten Ordnung,
sondern bleibt flexibel und spontan; es ist die Vollendung des zweiteiligen
künstlerischen Aktes, denn schließlich muss das neu geschaffene Werk, das meist
auf einer Naturabbildung beruht, diese aber nicht mehr repräsentiert, schlichtweg
funktionieren, muss Harmonie und Spannung, Hell und Dunkel ausbalancieren, was
Baumann spielend gelingt.
Der Berliner Künstler setzt in seiner jüngeren Photographie nicht auf das Einzelbild,
sondern auf die Sequenz, so als hätte es Henri Cartier-Bressons berühmtes Credo
des „entscheidenden Augenblicks“ nie gegeben, eine Idee, die Baumann mit den
eigenen „Straßenphotographien“ in den 1990er-Jahren noch verfolgte und damals
ins Zeitgenössische übersetzte. Inzwischen hingegen bleibt sein Kamerablick im
Studio vor allem an Körperoberflächen hängen, den er gleich dutzendfach variiert;
mal scheint er in die Wesen und Leiber optisch sogar einzudringen. Abbildungen
nackter menschlicher Körper gelten gemeinhin als erotisch oder sinnlich, bei
Baumann würde man die Nacktheit, selbst diejenige primärer oder sekundärer
sexueller Geschlechtsmerkmale, durch die abstrahierende Nahansicht wohl eher als
natürlich klassifizieren. Das Fleischliche der Haut, ihre Wärme und Weichheit spüren
wir gleichwohl auch hier, beispielsweise in der riesigen, 126-teiligen S/W-Arbeit
„Hautgout“.
Baumann verwirrt uns mit seinen Tableaus und deren Titeln. Sie bleiben
spannungsreich, rätselhaft, motivisch schwer zu entschlüsseln. Meist entstehen neue
Formen, amorphe Wesen, die nicht von dieser Welt zu sein scheinen oder die wie in
der Kunst des Manierismus gewunden und gelängt sind. Durch die Montage auf
einem zweidimensionalen Bildträger gewinnen wir den Eindruck, dass Baumann die
Körper in die Fläche des Bildes hineinklappt. Gleichzeitig bleibt durch das bewusste
Spiel mit Licht und einer leichten Unschärfe die Illusion einer Raumtiefe im Motiv
erhalten.
Mal geht es ihm um die ungewöhnliche Charakterisierung eines Menschen,
beispielsweise in den großen Körpermontagen. Dort entstehen surreal anmutende
Körperverdoppelungen und -erweiterungen. Eine abstrakte Variante, mit der die
Werkgruppe 1999 begann, ist die mehrteilige Arbeit „Nomos Alpha“ (und in der
Negativ-Variante: „Die Sterne stehen gut“): Hier sind annähernd alle Muttermale und
Leberflecke einer Frau in extremer Nahansicht zu sehen, die in der Umkehrung ins
Negativbild, realisiert vier Jahre später, wie helle Sterne am dunklen Nachthimmel
wirken. Die natürliche Körperzeichnung ist so individuell, dass das Bild auch ein
Porträt darstellt, ein so intimes wie abstraktes Porträt. Andere Aufnahmen respektive
Tableaus können wir ebenfalls weder dem Abbild eines menschlichen Körperdetails
noch dem einer Frucht zuordnen, so etwa die 12 Photographien der Farbserie
„Schnitt“ aus dem Jahr 2009, die wie geöffnete, auf eine Glasscheibe gepresste
Lippen oder Vaginas wirken, tatsächlich aber halbierte Pfirsiche ohne Stein sind.
Ein ebenso ungewöhnliches Gruppenporträt ist das der Regensburger Domspatzen,
die er auf deren geöffnete Münder beim Gesang reduzierte; es ist, als hörten wir mit
Blick auf die Aufnahmen einzelne Töne oder Oktaven. Die Anordnung der Bilder,
wiederum in mehreren Reihen nebeneinander und untereinander, entspricht einer
synchronisierten Momentaufnahme, tatsächlich sind die Photographien
hintereinander entstanden. Die Aufreihung der Close-ups symbolisiert darüber hinaus
eine Choraufstellung oder eine Art Partitur. Bei einigen Mündern sehen wir die Zähne
der jungen Sänger, andere formen mit ihren kreisrund gespitzten Lippen wohl eher
O-Töne. Doch die Körperöffnungen könnten – im Kontext von Baumanns Werk –
auch anders gelesen werden, und diese Ambivalenz ist sicherlich nicht
unbeabsichtigt.
Auch die Idee einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung, etwa einer
Reihenuntersuchung, begegnet uns hier, ausgeführt mit einer Kamera in situ und
somit nicht unter Laborbedingungen: zahlreiche Aufnahmen von Flechten,
bekanntlich eine robuste Spezies, die Wind und Wetter trotzen und nahezu
bedürfnislos an steinernen, felsigen Oberflächen haften, ja mit diesen zu
verschmelzen scheinen. Die Flechten ähneln sich nur auf den ersten Blick. Schauen
wir genauer hin, entdecken wir runde, ovale oder ausgefranste Formen; manche
wachsen aufeinander zu oder umschließen sich wie Amöben, ohne sich jedoch zu
„kannibalisieren“. Innerhalb der größeren Tableau-Serie montiert der Berliner
Photograph die Aufnahmen der mittig ins Bild gesetzten Flechten mit leichtem
Abstand der Bildkanten voneinander auf einen Bilderkarton; so entsteht ein Raster,
was zum vergleichenden Sehen wie seinerzeit bei Karl Blossfeldt anregt.
Die unterschiedlichen Serien, entstanden zwischen 1999 und 2012 und meist
aufgezogen auf einen flexiblen Polystyrol-Kunststoffträger, sind in der vorliegenden
Publikation nicht-linear und nicht-chronologisch angeordnet, sondern gewissermaßen
abgekoppelt von der Alltagswelt und der Photographiegeschichte. Sie erzählen eine
andere Geschichte, die eines unabhängigen Künstlers und dessen poetischen Blick
auf die Welt. Die Werke sind knapp betitelt, mal deskriptiv wie „Koralle“ oder
„Wollschwamm“, mal prosaisch wie „Hautgout“ oder „Kontrapunkt“.
Vielen Tableaus, in Formaten bis drei mal fünf Meter, ist ein All-Over-Prinzip eigen:
Baumann verzichtet auf ein sich bildmittig verdichtendes Zentrum; deshalb scheinen
die Außenkanten das Bild nicht zu begrenzen – und die bandwurmartige,
schwammige oder amorphe Form setzt sich vermeintlich mühelos immer weiter fort.
Das zusammengesetzte Bild wird zum Detail eines viel größeres Geflechts oder
Gewebes, das seine äußere, fiktive Gestalt paradoxerweise erst durch die Montage
erfährt. Die Einzelteile bleiben wie in einem Mosaik sichtbar, die Bildkanten prallen
teilweise visuell hart aufeinander und bilden als pars pro toto zunächst eine
heterogene Einheit. Doch je länger wir die Bilder betrachten, desto mehr harmonisiert
sich das neue Gefüge. Die Oberfläche der Dinge ist hier bloße Projektionsfläche für
die eigene Imagination; ob es Realität oder Fiktion ist, entscheiden wir. Die
Werkgruppe kann darüber hinaus zu einer grundsätzlichen Neudefinition von
Körpern führen, insbesondere auf der Basis einer individuellen Rezeption. Auch
wenn es kunsthistorische Vorläufer gibt, Jürgen Baumanns künstlerischer Ansatz
zwischen Dekonstruktion und Konstruktion und seine großformatigen,
zweidimensionalen Photoskulpturen bleiben in der zeitgenössischen Photographie
eigenständig.
Matthias Harder