Jürgen Baumanns Arbeiten der letzten Jahre fokussieren Körperlichkeit und nehmen das
körperliche Detail, die Binnenstrukturen von Körpern ins Visier. Entgegen aller Virtualisierungstendenzen der Gegenwartskunst
stellt er das konkrete Abbild in den Mittelpunkt seines künstlerischen und bisweilen beinahe naturwissenschaftlichen Interesses als Fotograf.
Seine Arbeiten sind äußerst puristisch und beanspruchen höchste Authentizität, denn sie sind niemals digital überarbeitet, computermanipuliert
oder gar computergeneriert, sondern entstehen ausschließlich im Atelier und in der Dunkelkammer.
Mit herkömmlicher fototechnischer Ausstattung geht Baumann nahe an die Objekte heran, sucht die größte Nähe zu den Körpern
und konzentriert sich auf Oberflächenstrukturen und Details. Die Kamera fragmentiert das Ganze und scannt den Gegenstand
konsequent mit der Linse Zentimeter für Zentimeter ab.
Diese beinahe brutale Nähe hebt die Distanz zwischen Fotograf und Objekt vollkommen auf. Das fragile Gleichgewicht von
Distanz und Nähe, von respektvollem Abstand und intimer Grenzüberschreitung wird konsequent überspannt und bis aufs
Äußerste vorangetrieben. Dabei bleibt jedoch die Fragmentierung nicht im Stadium des Voyeurismus stehen, sondern greift
kreativ ein.
Die Distanz zum Objekt wird vielschichtig überschritten und generiert neue Körperlichkeit, denn aus einem Pars-Pro-Toto
entwickeln sich neue formale Identitäten oder besser gesagt: Abstrakte Wesen, Landschaften und Bilder. Aus den Fragmenten
formiert sich so gewissermaßen eine neue Totalität, eine Totalität, die den Körper des fotografierten Gegenstandes umdefiniert
und ihn als Summe multipler Blicke und Ansichten wieder zusammen setzt.
Jürgen Baumann bleibt bei seiner Arbeit beim Bild, einem Bild, das sich aus Sequenzen formuliert und sich in eine fast
landschaftlich zu nennende Ganzheit verwandelt. Der eigentliche Bildgegenstand - das dokumentierte Objekt - verliert
bei diesem Prozess der Segmentierung vollkommen seine Bedeutung, denn er ist in der Summe der Fragmente nicht mehr
als solcher in seiner ursprünglichen Beschaffenheit zu erkennen.
Die detailversessene Abstraktion ist in vielen Arbeiten so weit fortgeschritten, dass völlig unklar wird, worum es
beim abgebildeten Gegenstand ursprünglich einmal ging.
Denn die Summe der Einzelperspektiven lässt keinen neuen Körper entstehen, sondern eine flächenhafte Bildhaftigkeit,
die durch Dynamik, räumliche Tiefe, Hell-Dunkel-Kontraste und fortlaufende Strukturen gekennzeichnet ist. Insofern auch
der Vergleich zur Landschaft oder besser: zum Landschaftsbild, das von malerischen Ordnungsprinzipien bestimmt wird.
Jürgen Baumann ist von den unendlichen kreativen Möglichkeiten der Aneinanderreihung von Segmenten fasziniert und er
erfindet permanent neue solcher Körperlandschaften, die in erster Linie als Bild, nicht als Abbild funktionieren.
Natürlich setzen die Arbeiten auch eine Vielzahl ganz anderer Assoziationen frei, denn man wird z.B. an blutige Haut
erinnert oder findet sich beim Betrachten von schlichten Muttermalen im Kosmos des Weltalls wieder oder aber man denkt
an erotische Motive, wenn man sich mit einfachen Obstkernen konfrontiert sieht.
An diesem Punkt befindet man sich als Betrachter mitten im Dilemma der eigenen Position und der eigenen Phantasien wieder.
Farbigkeit und Struktur vieler Bilder, ebenso wie der feuchte Glanz ihrer Oberflächen, setzen mannigfache Assoziationen frei,
spielen mit der Distanzlosigkeit des Voyeurs und einer vermeintlichen Nähe zum menschlichen Körper.
Erschrecken über das eigene Beobachten und den eigenen neugierigen Blick stellen sich ein, wenn auch nur der leiseste
Anschein entsteht, man betrachte einen menschlichen Körper.
Manche Arbeiten spielen bewusst mit den Kategorien Schönheit und Hässlichkeit bzw. Anziehung und Abscheu, ja beinahe mit
der Empfindung von Ekel.
Herausgelöst aus einem wissenschaftlichen Bezugsrahmen, z.B. einem medizinischen Handbuch, setzen die Blessuren der Haut,
die Unreinheiten und offenen Wunden Abscheu in uns frei, obwohl wir keinen konkreten Hinweis darauf bekommen, was wir
eigentlich vor uns sehen. Farbe, Struktur und Form suggerieren belebte Körperlichkeit, scheinen den Blick in intimste
Bereiche des Körpers - genauer gesagt des menschlichen Körpers - freizugeben. In Bereiche also, die normalerweise aller
öffentlichen Betrachtung entzogen sind, es sei denn sie dient der wissenschaftlichen Auseinandersetzung. Denn in gewisser
Hinsicht ist dieser sezierende Einblick in intime Bereiche unseres Daseins ausschließlich durch die wissenschaftliche
Objektivierung legitimiert.
Noch schwieriger verhält sich diese Diskrepanz (von Schönheit und Hässlichkeit) aber in der Fotografie, zumal wenn der
menschliche Körper in den Blick genommen wird, ein Motiv, das am deutlichsten mit ästhetischen Barrieren und Vorbehalten
besetzt ist. Menschliche Körper sind hier nur marginal vertreten, obwohl Jürgen Baumann unzählige solcher Serien
produziert hat.
Eine Erinnerung an den menschlichen Körper spielt aber in einem Großteil der hier zu sehenden Arbeiten dennoch eine große
Rolle, auch wenn nur Motive aus der Pflanzenwelt zu sehen sind.
Die ästhetische Demarkationslinie ist in unserer modernen Gesellschaft mit ihren hemmungslosen Werbestrategien, mit ihrer
unverblümten Sensationslust und oftmals geschmacklosen Bildverwertung ziemlich dünn geworden. Der Schritt von Dokumentation
und Abbildung zu Obszönität bzw. zu Erotik und Pornografie ist klein und wirft den Betrachter beständig auf den eigenen
Wertapparat zurück.
Im Fall von Jürgen Baumann wird aus dem konfrontativen Blick aufs Detail eine kritisch zu nennende Suggestion.
Sie entsteht durch ein zu viel an Bildinformation in unseren Köpfen und überblendet das eigentliche Abbild - es handelt
sich z.B. um einen schlichten Kürbis oder um Obstkerne - mit assoziativen Obsessionen.
Zurück bleibt ein Konflikt, in dem sich der Betrachter und die Betrachterin unvermittelt wieder finden, ein Konflikt,
der über die Macht der Bilder in unserem Alltag äußerst beredte Auskunft gibt. In gewisser Weise formulieren Baumanns
Arbeiten dazu einen kritischen Kommentar.
Jürgen Baumanns Arbeiten nun geben einer menschlichen Sensationslust eigentlich keine Chance, auch wenn sie den Blick
auf das Dargestellte und das spontan Assoziierte nicht wissenschaftlich-objektiv zu begründen versuchen.
Stattdessen wird künstlerisch legitimiert. Baumann bringt durch das serielle Aneinanderreihen von Motiven und
Motivausschnitten eine quasiobjektive Neutralität ins Spiel, die eine ganz eigene künstlerische Qualität ausmacht
und hervor ruft.
Einzelne Segmente und Detailausschnitte eines Objektes werden aufgereiht, z.T. Stoß auf Stoß., z.T. mit einem minimalen
Abstand, und es entwickelt sich dadurch eine gewisse Rahmung bzw. Rasterung. Sie erinnert zunächst an Schautafeln in
medizinischen Büchern, so als ginge es darum eine Entwicklungsgeschichte im Sinne einer Genesis zu dokumentieren oder
die Analyse von Farbwerten zu vollziehen. Und natürlich ist das auch der Hintergrund, vor dem diese Art des Arbeitens
gesehen werden muss.
Interessant ist aber, was daraus an Neuem entsteht, wie sich einzelne immer wiederkehrende Motive zu neuen Bedeutungen
zusammen finden. Denn plötzlich nehmen ganz banale Motive aus der Natur symbolische Qualität an, erinnern z.B. an das
Weltall und reflektieren die Entstehungsgeschichte des Lebens oder sie wechseln ihre Farbigkeiten und rufen Stimmungen hervor,
changieren zwischen Melancholie und Fröhlichkeit (wohlgemerkt: Obstkerne tun das!). Andere Motive wirken wie textile
Strukturen, ergeben den Eindruck eines künstlerisch gefertigten Netzwerks, das allein durch die Art des Nebeneinanderstellens
entsteht (so kunstvoll ist aber nicht menschliche Handarbeit, sondern ein schlichter Pilz).
Als ich das erste Mal bei Jürgen Baumann im Atelier war und er nacheinander alle diese einzelnen Segmente vor mir ausbreitete,
war ich schlicht von der Vielfalt fasziniert und habe erst einmal versucht herauszufinden, was das alles ist, was wir da
vor uns sehen.
Aber auf den zweiten Blick stellte sich um so mehr die Faszination über das Neue ein, das aus dem Zusammenspiel der
einzelnen Motive entsteht, und es erinnerte mich ein wenig an die Malerei des Pointillismus, bei der aus unzähligen
kleinen Farbpunkten in der Distanz ein Bild entsteht.
Jürgen Baumann hat diese fast schon meditative Konzentration in seinen Arbeiten gefunden, wenn er uns die Faszination
für das Kleine, Winzige und oftmals Mikroskopische spüren lässt, die seiner Arbeit zugrunde liegt.
Seine Archäologie des Obstkerns ist für mich der deutlichste und darüber hinaus auch ein sehr unterhaltsamer Beweis.
Auszüge einer Rede von Ralf F. Hartmann anlässlich der Ausstellungseröffnung "SEGMENTE", Galerie Bernau, 19.04.2002
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